Home | Alle Themen | Buchbesprechungen | Auffälliges Verhalten in der Schule: Auffälliges Verhalten in der Schule: Pädagogisches Verstehen und Handeln.Becker, Ulrike (2023).Mit diesem Buch werden Lehr- und pädagogischen Fachkräften auf der Grundlage theoretischer Überlegungen sowie langjähriger praktischer Erfahrung vielfältige Anregungen gegeben, ihr pädagogisches Handeln in Konflikten zu reflektieren. Das Verstehen individueller Gründe für auffälliges Verhalten sowie die Entwicklung zielführender pädagogischer Interventionen durch das Zusammenwirken multiprofessioneller Teams steht im Vordergrund. So werden die Perspektive der Lernenden eingenommen und zugleich der Blick auf die seelische Gesundheit der Lehrkräfte gerichtet. Insbesondere für die inklusive Förderung von Lernenden mit Beeinträchtigungen in der emotionalen Entwicklung werden umsetzbare Methoden für den Schulalltag vorgestellt.Im ersten Kapitel bezieht sich Becker auf die psychosoziale Situation von Kindern und Jugendlichen im Kontext der Corona-Pandemie. Die aktuelle Diskussion um Präsenz- und Distanzunterricht wird aufgegriffen und unter dem Aspekt der Bedeutung und Verantwortung von Lehrkräften für gelingende und Halt gebende pädagogische Beziehungen erläutert. Es wird verdeutlicht, wie durch einen Präsenzunterricht, der sowohl auf individuellem Lernen als auch auf Gruppenlernen basiert, auch im Distanzunterricht eine Balance zwischen Distanz und Nähe stattfinden kann. Becker verweist auf Lernformate wie Forschertage, Freiarbeit, Philosophieren mit Kindern, Projektlernen usw. Das Lernformat „Frei Day“ (Rasfeld) zur partizipativen, selbstständigen und verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit gesellschaftlich aktuellen Themen wird ausführlich vorgestellt. Scheitern ist in diesem Format einbezogen und kann für Lernende mit geringer Frustrationstoleranz entlastend sein.Im zweiten Kapitel stellt Becker interventive Methoden vor, die sie als „Cuts“ bezeichnet. Sie kommen zum Einsatz, wenn Lernende aggressives Verhalten gegenüber Lehrkräften zeigen. Dazu gehören z.B. Reset, von der Konfrontation zum Schulterschluss, paradoxe Intervention, Umlenken, Platztausch, Rausgehen als Lehrkraft, Wiedergutmachung. Während gängige Methoden zu Machtkämpfen und Sanktionen führen, steht hinter diesen Vorgehensweisen eine pädagogische Haltung, die Interesse an den Lernenden und subjektive Gründe für ihr Verhalten mit vollzieht. Im Gespräch mit den Beteiligten können so individuelle Lösungen entwickelt werden. Den Lernenden wird im Sinne einer Ethischen Pädagogik auch im Konflikt mit Wertschätzung begegnet und Lehrkräfte dazu angeregt, persönliche Übertragungsphänomene und deren Wirkung auf die pädagogische Beziehung zu reflektieren. Konkrete Beispiele aus der Praxis veranschaulichen die Anwendung der Cuts.Die folgenden beiden Kapitel beschäftigen sich mit möglichen Ursachen für schädigendes Verhalten von Lernenden gegenüber anderen oder sich selbst. Das Verstehen der subjektiven Verarbeitung von Erfahrungen in Familie (Geschwisterkonflikte, Vernachlässigung usw.) oder Schule (Mobbing, Stigmatisierung usw.), die sich auch unbewusst in auffälligem Verhalten ausdrücken können, steht hier im Vordergrund (Kapitel 3). Schädigungen gegenüber sich selbst können mitvollzogen werden, wenn Aspekte wie Reizüberflutung, Trennungsangst, selbstverletzendes Verhalten wie Ritzen, Hyperaktivität usw. berücksichtigt werden. Durch vielfältige Praxisbeispiele wird anschaulich erläutert, wie Lehr- und pädagogische Fachkräfte auf das Verhalten von Lernenden mit Beeinträchtigungen in der kognitiven und emotionalen Entwicklung pädagogisch zielführend intervenieren können (Kapitel 4).In Kapitel 5 werden konkrete Anregungen dazu gegeben, wie mit sogenannten „schwer erreichbaren Eltern“ eine kooperative Zusammenarbeit entwickelt werden kann. Auch hier wird sensibel die Perspektive von Eltern eingenommen, um deren Gründe zu verstehen und sie wertschätzend zum Austausch zum Wohle ihres Kindes zu gewinnen. Becker bietet hier hilfreiche und umsetzbare Lösungen für Gespräche mit Eltern an. Die präventive Wirkung pädagogischer Strukturen (wie z.B. durch Schulprogramme und Schulordnungen) wird in Kapitel 6 aufgegriffen. Eine partizipative und ethisch orientierte Entwicklung von Regeln für das soziale Miteinander sowie die Verwendung der Methode „Wiedergutmachung“ anstelle von Sanktionen kann dazu beitragen, auffälliges Verhalten zu verringern. In Kapitel 7 werden Beispiele für Lernzugänge für Lernende mit Beeinträchtigungen in der sozialen und emotionalen Entwicklung vorgestellt, durch die eine schulische Ausgrenzung überwunden werden kann. Dazu gehören das Projekt Übergang, in dem die „Temporäre Lerngruppe“, der inklusive Unterricht, Beratungen im Team und mit Eltern sowie Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe zum Gelingen beitragen. Die Lernzugänge werden anschaulich erläutert.Der besondere Wert dieses Buchs besteht darin, dass Becker sowohl wissenschaftlich fundiert als auch praktisch anschaulich die verschiedenen Perspektiven auf die Bewältigung herausfordernder Situationen einnimmt. Es ist sehr gut für Lehr- und pädagogische Fachkräfte mit und ohne sonderpädagogischem Fachwissen geeignet und bietet vielfältige Ansätze auf dem Weg zur Inklusion von Lernenden mit auffälligem Verhalten. Der verstehende Zugang sowie die kreativen Lösungsbeispiele sollten für Lehrkräfte aller Schulformen zugänglich gemacht werden und in der sonderpädagogischen Beratung Anwendung finden. Auf diese Weise kann das Buch in hohem Maß dazu beitragen, seelisch belastete Lernende vor Ausgrenzung zu bewahren. Martina Hehn-Oldiges