Bildung und Staunen. Eine bildungsphilosophische Perspektive im Kontextgeistiger und schwerer Behinderung

Stommel, Theresa (2023).

Theresa Stommel stellt im vorliegenden Buch Menschen in den Fokus, die aufgrund ihrer personenbezogenen Beeinträchtigungen in ihrer (Er-)Lebenswirklichkeit oft lebenslang auf Unterstützung und Assistenz angewiesen sind und deren Bildungswirklichkeit von einer überdurchschnittlich auftretenden Bildungsbenachteiligung gekennzeichnet ist. Diese Benachteiligung äußert sich u.a. in ein seltenes Einbezogensein, in inklusive Konzepte, einem primär am Entwicklungsalter orientierten Unterricht, fehlenden didaktisch-methodischen Konzepten, einer tendenziell unvollständig ausgenutzten Lernzeit und einem reduzierten (inhaltliches) Angebot an Bildungs- und Lerngelegenheiten. Einen Grund für die reduzierten Bildungs- und Teilhabechancen dieser Personengruppe verortet Stommel im wissenschaftlichen Diskurs um Bildung im Kontext geistiger und schwerer Behinderung, der sich zwar vielstimmig darstelle, dem es jedoch an einer hinreichend theoretisierten bildungsphilosophischen Perspektive mangele.

Die Autorin legt vor diesem Hintergrund mit ihrer Arbeit eine bildungstheoretische Grundlegung mit allgemeinem Anspruch vor, die den bestehenden Bildungsdiskurs aufgreift, kritisch reflektiert und sich dessen diskursiven Leerstellen aus bildungsphilosophischer Perspektive zuwendet. Auf dieser Grundlage gelingt es ihr, das Phänomen des Staunens in das Diskursfeld einzuführen, um damit nicht nur Bildung anders zu denken, sondern auch die damit verbundenen pädagogisch-didaktischen Fragen im Kontext geistiger und schwerer Behinderung neu zu verhandeln. Im Zentrum steht damit grundsätzlich die Frage, wie ein allgemeines Verständnis von Bildung und Bildungsprozessen theoretisch fundiert und wie dieses für die pädagogische Praxis im Kontext geistiger und schwerer Behinderung fruchtbar gemacht werden kann.

Der erste Abschnitt des Buchs ist der „Theoretische[n] Hinführung“ gewidmet und dient der Konkretisierung des Forschungsgegenstands. Einleitend wird das Phänomen „Bildung“ begrifflich und ideengeschichtlich entlang prägender bildungstheoretischer Denkarten konzise dargestellt, wobei der kulturellen Dimension von Bildung ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird: Als zentral erweist sich in diesem Abschnitt, dass sich Bildung sowohl als Ergebnis von kultureller Teilhabe als auch als Voraussetzung für kulturelle Teilhabe auszeichnet. Pointiert problematisiert Stommel daher die gegenwärtig unzureichenden kulturellen Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit geistiger und schwerer Behinderung (S.41ff.). Im Anschluss daran fächert die Autorin den bildungstheoretischen Diskurs seit den Anfängen der „Schwerstbehindertenpädagogik“ entlang ausgewählter Positionen sorgfältig auf. Obwohl Stommel dabei insgesamt unterschiedliche bildungsbestimmende Motive herausarbeiten kann, identifiziert sie innerhalb der Disziplin eine unzureichende Einigkeit hinsichtlich des bildungstheoretischen Verständnisses. Hierin vermutet sie auch einen Einfluss auf das unklare Bildungsverständnis in der pädagogischen Praxis (S.73).

Im zweiten Abschnitt unterzieht Theresa Stommel die Vorannahmen und Bestimmungen gängiger Konzeptionen von Bildung einer kritisch-problematisierenden Untersuchung, um dadurch ein nicht ausschließendes Verständnis von Bildung zu entwickeln. Dabei tritt Stommel schrittweise in einen differenzierten Dialog mit verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Phänomens „Bildung“: Gerade im Hinblick auf den Kontext geistiger und schwerer Behinderung erweist sich die vorgenommene Auseinandersetzung als ergiebig, da Bildung letztlich als ein Prozess der Veränderung von (leiblichen) Selbst- und Weltbezügen verstanden wird,
der nur unter Achtung der Selbstbestimmung sowie der Anerkennung des Anderen möglich ist, und der dem Menschen durch das (leibliche) „Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-Werden“ bewusst wird.

Die damit in den Mittelpunkt gerückte Theorie transformatorischer Bildungsprozesse weist jedoch ausgrenzende Tendenzen auf: Der darin verorteten „sprachlichen Exklusivität“ begegnet Stommel grundsätzlich kritisch und relativiert bzw. löst sie unter Rückgriff auf die phänomenologische „Erfahrung des Fremden“ sensu Waldenfels auf: Sie zeigt sorgfältig auf, dass der relationale Austausch zwischen dem Selbst und der Welt nicht auf einen ausschließlich sprachlichen Austausch beschränkt werden kann. Die Erfahrung des Fremden wird hier als Anlass zur Veränderung des Selbst- und Weltbezugs verstanden. Im Wirkungsfeld des Fremden erweist sich die ethisch-normative Auseinandersetzung (nicht nur, aber besonders für den Kontext geistiger und schwerer Behinderung) als wichtig, in welcher deutlich gemacht wird, dass Veränderungsprozesse auslösende Erfahrungen nur dann in Bildungsprozesse überführen, wenn diese weder verletzend noch traumatisierend sind (S.165).

Der dritte Abschnitt des Buchs führt das Phänomen des Staunens als Wirkung des Fremden ein. Staunen als Ergriffensein, als Antwort und Ausdruck auf ungeahnte Ansprüche wird als Affekt in den Diskurs gebracht, welchem bisher (bildungs-)theoretisch kaum Beachtung geschenkt worden ist (S.187). Es erweist sich als eindrücklicher Verdienst Stommels, die Bedeutsamkeit und Wirksamkeit des Staunens auf Bildungs- und Veränderungsprozesse theoretisch akribisch aufzuzeigen: Ergriffensein hat einen produktiven Gehalt inne, da Staunen nicht in einer Antwortlosigkeit, sondern in einer kreativen Antwort endet. Staunen weist durch die damit einhergehende Veränderung der Selbst- und Weltverhältnisse bildenden Charakter auf.

Im Anschluss zeigt Stommel wesentliche Aspekte eines „staunenfreundlichen“ Unterrichts auf: Neben der Berücksichtigung des eigenen Erfahrungshorizonts und der Einstellung gegenüber Fremden zeigen sich für Fachpersonen der pädagogische Verantwortungsbereich des Aufmerksammachens auf Besonderheiten, auf Fremdes, Neues oder Unerwartetes als relevant, um Staunen zu ermöglichen und zu begleiten. Das eigene „Fasziniertsein“ bzw. die eigene affektive Involviertheit ist hierbei deutlich erwünscht (S.210).

Als didaktisches Mittel eines staunenerregenden Unterrichts führt Stommel die Verfremdung von (Unterrichts-)Gegenständen und Situationen ein. Verfremdung wird verstanden als „Abweichung“, die in Bezug auf einen Bildungsgegenstand hinsichtlich der gewohnten Perspektive, der gewohnten Eigenschaften und Eigenheiten, des konventionellen Darstellungsmodus oder der gewohnten Distanz vollzogen wird. Zudem können Abweichungen auch hinsichtlich (gewohnten) Orten und Räumen sowie Zeiten und Rhythmen als Möglichkeit der Staunenserregung im Unterricht eingesetzt werden. Die didaktischen Vorschläge bringen eine „spezifische Brisanz“ (S.237) mit sich, da diese die bisher gängigen didaktischen Orientierungsgrundlagen im Kontext geistiger und schwerer Behinderung, die einen Fokus auf bereits Bekanntes, Etabliertes, klar Strukturiertes und Erwartbares aufweisen, um eine andere Perspektive erweitern. Es wird Aufgabe des theoretischen Diskurses und der pädagogischen Praxis sein, sich dieser anders zu denkenden Didaktik zu stellen.

Fazit: Theresa Stommel legt mit ihrer Dissertation eine bildungsphilosophische Abhandlung vor, die den bildungstheoretischen Fachdiskurs im Kontext geistiger und schwerer Behinderung aufnimmt, befragt und durch den Einbezug des Affekts „Staunens“ anregt und bereichert. Die sorgfältige Strukturierung des gesamten Buchs und die differenzierte Darstellung der Argumentationslinien ermöglichen eine stets gute Nachvollziehbarkeit der komplexen Auseinandersetzung. Mit ihrer Arbeit gelingt Theresa Stommel eine nicht ausschließende bildungsphilosophische Perspektive, der es schlussendlich sehr gut gelingt, die Leserschaft anzuregen, Bildung und Didaktik (im Kontext geistiger und schwerer Behinderung) anders zu denken.
André Schindler