Home | Alle Themen | Buchbesprechungen | Interessenkonflikte der inklusiven Schule Interessenkonflikte der inklusiven Schule Fallstudie zur niedersächsischen Schulreform 2015Jenner, Thea (2021)Mit dem Band Interessenkonflikte der inklusiven Schule. Eine Fallstudie zur niedersächsischen Schulreform 2015 legt Thea Jenner ihre Dissertation vor, die sie 2020 an der Humboldt-Universität zu Berlin in Begutachtung von Prof. Dr. Rita Nikolai und Prof. Dr. Vera Moser eingereicht und verteidigt hat. Wer nun denkt, es handelt sich um ein Nischenprodukt, das sich nur mit einem niedersächsischen Spezialbereich befasst und dazu noch mit einem, der bereits sieben Jahre zurückliegt, der hat weit gefehlt. Das Buch ist hochaktuell in der Darstellung und spannenden Sezierung eines landesweiten Organisationsentwicklungsprozesses hin zu einer inklusiven Schulwirklichkeit, wie er jederzeit und in allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland vorzufinden sein könnte. Das Werk analysiert ein Beispiel für ein großangelegtes Reformvorhaben, das an Lobby-Interessen stößt und sich dadurch immer weiter verlangsamt – bei der Lektüre fühlt man sich an „Liebling, wir haben die Reformen geschrumpft…“ erinnert. Einzel- und Partikularinteressen treten im Verlauf des inklusiven Entwicklungsprozesses immer weiter in den Vordergrund und sind sehr gut nachvollziehbar dargestellt. Und für jede Akteursgruppe ist hochinteressant nachvollziehbar, wo sie aus wissenschaftlicher Sicht verortet wird. Der Gesamtprozess wird anhand der auf S.14 dargestellten Forschungsfragen und des Fallüberblicks ab S.16 transparent und ja, man kann sagen, übertragbar auf ähnliche Abläufe, dargestellt. Jede Akteursgruppe hat bei Schulentwicklungsprozessen ihre besonderen Interessen, vordergründige Vorstellungen und hintergründige Vernetzungen. Auch der Verband Sonderpädagogik wird dabei mit beleuchtet und die Autorin untersucht, wer sich mit wem wie und warum verortet. Die Fallstudie untersucht dabei die spannenden, aber eben auch immer wieder beobachtbaren Wege des Lobbyismus („Da gibt‘s ’ne eingespielte Routine“, S.168ff. und „Entscheidend ist, dass man sich vernetzt“, S.174ff.) und zeigt auf, wer seine Interessen vertreten und Öffentlichkeit mobilisieren kann – und wer eben auch nicht. So fällt am Ende eines langen Prozesses die Förderschule Lernen im Primarbereich weg („Ursachen für das Auslaufen der Förderschule Lernen“, S.189f.), weil es dort eben keine lautstarke Vertretung gibt und die Förderschule Emotionale und soziale Entwicklung bleibt bestehen und erhält das euphemistische Etikett der Durchgangsschule angeheftet (vgl.S.188f.). Die spezielle Schulform mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Sprache hingegen bleibt bestehen (vgl. S.187f.) und hiermit wird wunderbar belegt, wie sich Partikularinteressen durchsetzen können, wenn nur intensiv und laut genug lobbyiert wird. Der besondere Wert dieses Beitrags zur Inklusionsforschung liegt genau in diesem Auftrag an die Zivilgesellschaft, sich für die ausgewogene Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler einzusetzen und nicht nur eine Gruppe oder gar Einzelgrüppchen in den Blick zu nehmen. So machen die Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse und insbesondere das Fazit (ab S.196) der Autorin Thea Jenner Mut, nicht nachzulassen in dem Bemühen, in jedem Bundesland eine inklusive Schullandschaft für ALLE weiterzuentwickeln und dabei immer die Interessenlagen der Gruppierungen der Zivilgesellschaft im Blick zu behalten, auch wenn der hier untersuchte Reformprozess als Tiger gestartet und als Bettvorleger gelandet ist. Der Weg ist dennoch der richtige und muss weiter gegangen werden. Zum Schluss noch eine weitere Begründung, weshalb das Buch von Thea Jenner einer großen Leserschaft ans Herz zu legen ist – nämlich die Sprache. Sprache bildet bekanntlich Denken ab, wie schon Wilhelm von Humboldt (sic!) wusste. Und das gilt auch für die sehr lesenswerten Interviews und Belegstellen. Sie sind in der benutzten Sprache Belege für die Vielschichtigkeit der Interessenkonflikte (vgl. ab S.125ff. und insbesondere S.167-185) und für den weiten Weg hin zu einer inklusiv denkenden und handelnden Gesellschaft. Selbst für eingefleischte Nicht-Transkribierungsfans wird deutlich, wie wichtig es ist, ab und an Äußerungen in Schulentwicklungsprozessen in ihrer ganzen erhellenden Entlarvungskraft nachzulesen. Danke an die Autorin für diese wertvolle Studie mit den besten Wünschen für eine große Leserschaft sagtAngela Ehlers