Lernräume und Schularchitektur. Grundschule mit Kindern neu denken, neu planen, neu gestalten.

Beiträge zur Reform der Grundschule, Bd. 157

Ramseger, Jörg & Kirch, Michael (Hrsg.) (2024).

Manche kennen sie noch aus ihrer eigenen Schulzeit: die traditionelle „Flurschule“ oder – wie der französische Pädagoge Célestin Freinet sagte – die „école caserne“. (Ehr)Furcht einflößende, dunkle, ungastliche und oft wenig kindgerechte Einrichtungen, die junge Seelen über Jahre prägten und nicht selten quälten. Auch wenn es diese bis heute noch gibt, ob als düstere, renovierungsbedürftige Altbauten oder dem architektonischen Brutalismus der 1970er Jahre frönende Betonbunker – so ist doch zum Glück in den letzten Jahren die enge Beziehung von Schularchitektur und Pädagogik in den Blick verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen geraten, die dieses Thema intensiv aufgreifen, diskutieren und bearbeiten. Pointiert lautet heute, nicht zuletzt inspiriert durch die Reggio-Pädagogik, das neuere Verständnis der untersuchten Zusammenhänge: „Der Raum als dritter Pädagoge“ (Loris Malaguzzi).

Wenn bereits Reformpädagogen am Anfang des „Jahrhunderts des Kindes“ begannen, ihre Klassenräume zu „vorbereiteten Lernumgebungen“ (Montessori), Schulwohnstuben“ (Petersen) oder „Arbeitsateliers“ (Freinet) umzugestalten, so richtet sich der Blick inzwischen auf die Gesamtkonzeption einer Schule, d.h. ihren Innen- und Außenbereich. In den letzten Jahren ist eine erfreuliche Zunahme an Fachliteratur zu verzeichnen, in der zukunftsweisende Schulbauprojekte vorgestellt werden. An vielen Orten entstanden oder entstehen innovative Einrichtungen, die als anregende Beispiele für die Gestaltung kindgerechter Lernräume dienen und die Gesamtkonzeption moderner Schulen inspirieren können.

„Die Vorbereitung der Umgebung ist das praktische Fundament unserer Erziehung“ (Maria Montessori)

In diesem Zusammenhang sei der im Auftrag des Grundschulverbands erschienene Band „Lernräume und Schularchitektur“ wärmstens empfohlen. Das umfangreiche Werk gliedert sich in sieben Kapitel mit insgesamt 44 Beiträgen aus der Praxis. Jedes Kapitel wird durch eine kompakte, neugierig machende
Einleitung eröffnet:

Kap. 1 Über den Tellerrand hinaus

Kap. 2 Hier fühle ich mich wohl

Kap. 3 Hier kann ich lernen

Kap. 4 Hier erlebe ich viel von der Welt

Kap. 5 Hier darf ich mitentscheiden

Kap. 6 Hier ist digital normal

Kap. 7 Hier ist meine Schule im alten Gebäude

Die Kapitelüberschriften machen deutlich, was im Untertitel des Buchs schon anklingt und worum es allen Autorinnen und Autoren geht: „Grundschule mit Kindern neu denken, neu planen, neu gestalten“. Alle Beiträge lassen sich gut lesen, sind anschaulich verfasst und hervorragend bebildert. Schon das Durchblättern macht Freude! Beim Betrachten der zahlreichen Fotos und Raumskizzen kann sich leicht das Gefühl einstellen: „Ach, so schön kann Schule sein!“ oder „Wäre ich doch nur noch mal Schüler, da ginge ich auch gerne hin…“

Das prägnante Vorwort aus der Feder der beiden Herausgeber benennt aktuelle Ansprüche an Schule durch gesellschaftliche Veränderungen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse über das Lernen, Erwartungen an ganztägige Bildung, Integration und Inklusion, die ein „Nachdenken über die optimalen Raumstrukturen“ (S.9) in Bestandsbauten, Schulneubauten und bei Umbauten unverzichtbar machen. Anliegen des Buchs sei es, „Lust (zu) machen auf zukunftsorientierte Lernräume“, die den Ansprüchen der Kinder auf eine „bekömmliche Lernumgebung“ (S.9) Rechnung tragen. Daher wendet es sich explizit an eine breite Adressatengruppe von Verantwortungsträgern aus Pädagogik, Schulbau, Architektur, Politik und präsentiert Best-Practice-Beispiele mit Vorbildcharakter aus dem In- und Ausland. Diese zeigen, wie sich Schule neu denken und gestalten lässt.

Die Lektüre der Kapitel in chronologischer Reihenfolge ist nicht zwingend erforderlich, ein „Einstieg“ je nach Interessenlage individuell wählbar. Da hier aus Platzgründen nicht auf alle 44 Beiträge eingegangen werden kann, seien mir einige Hinweise auf besonders interessante Aspekte gestattet.

Der Anspruch der Kinder auf eine neue Lernkultur und Mitbestimmung bei der Gestaltung „ihrer“ Schule als zentralem Lebensort, an dem sie sehr viel Lebenszeit verbringen, steht durchgängig im Mittelpunkt. In Kapitel 2 finden sich illustre Beispiele dafür, wie sich Kinder in Zukunftswerkstätten durch ihre Modelle, Texte und Zeichnungen in die Planung einbringen können. In Kapitel 5 geht es um Räume, die Mitbestimmung unterstützen, gelebte Demokratie in Klassenrat und Schulparlament fördern, Foren, in denen
Austausch und Diskussion stattfinden kann. Sehr lesenswert ist der Beitrag über die sog. „Phase Null“, in der alle Nutzerinnen und Nutzer eines Schulgebäudes in den Planungsprozess einbezogen werden sollen, um sich über die pädagogische Ausrichtung der Einrichtung und entsprechende architektonische Umsetzungsmöglichkeiten zu verständigen.

Ein weiterer Fokus liegt auf der Gestaltung attraktiver Außengelände und kindgerechter Schulhöfe mit interessanten Bewegungsangeboten, dem sinnvollen Zusammenspiel von Schulgebäude und grüner Umgebung sowie dem pädagogisch durchdachten Einbezug von Mensa und Turnhalle in das Gesamtkonzept. Aber auch die vielen Beispiele schöner Spiellandschaften, individueller Arbeitsplätze und Rückzugsorte, von ansprechenden Ausstellungsbereichen über die zweckmäßige Planung von guter Akustik, Licht, Luft und Farben bis hin zur Gestaltung sanitärer Anlagen als „sicheren Orten“ zeigen, dass nichts dem Zufall überlassen werden muss bzw. darf, will man das Versprechen einer „Schule des Kindes“ einlösen. Erfreulich und zugleich beruhigend ist, dass in vielen Schulkonzepten die Bibliothek als „Herzstück“ und attraktiver Lern- und Begegnungsort fest eingeplant ist.

„Schön, aber in unserer Schule funktioniert das leider nicht“, werden manche nun vielleicht abwinken. Aber die Beispiele in Kapitel 7 zeigen, wie sich auch alte Schulen neu denken lassen und welche Chancen sich für Schulentwicklung in Bestandsgebäuden ergeben. Hier scheint der differenzierte Fragenkatalog sehr hilfreich (S.234ff.), wie sich etwa in alten Schulgebäuden mit möglichst wenig Aufwand offene Lernlandschaften oder ruhige Rückzugsorte herstellen lassen.

Abschließend möchte ich den Beitrag „Ein Raum für alle Kinder“ (S.110ff) hervorheben, der sich mit der baulichen Unterstützung inklusiver schulischer Bildung beschäftigt. Differenziert nach sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfen und Förderschwerpunkten wird hier eindrücklich aufgezeigt, welche Herausforderungen mit der Formel „Design for all“ verbunden sind: Wie kann eine Schule gestaltet werden, die wirklich die Bedürfnisse aller ihr anvertrauten Kinder und deren individuelles Recht auf inklusive Bildung und Teilhabe berücksichtigt? Es ist das Verdienst der beiden Autoren, deutlich die Aufgabe aller Beteiligten herausgearbeitet zu haben, in ihrem Bemühen, „Schule neu zu denken“, noch einige Riesenschritte weitergehen zu müssen. Angesichts der bunten Vielfalt und großen Heterogenität in allen Lerngruppen ist die Umsetzung von „Räumen für alle“ ein gewaltiger Auftrag, der uns viel Phantasie, Kreativität und Kraftanstrengung abverlangt. Daher wäre es wünschenswert gewesen, hätte man diesem Anliegen im vorliegenden Band noch größeren Raum zugestanden.

Fazit: Dieses Buch greift ein viel zu lange außerhalb reformpädagogisch orientierter Kreise vernachlässigtes Thema auf, wirkt durch die Präsentation innovativer Leuchtturmbeispiele sehr inspirierend, macht definitiv Lust auf Schule und sollte Pflichtlektüre in der Lehrerausbildung sein.
Michael Klein-Landeck