Psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren.

Lehrbuch zu Grundlagen, Klinik und Therapie.

Kißgen, Rüdiger & Sevecke, Kathrin (Hrsg.). (2023).

Stellung des Lehrbuchs in der aktuellen Fachdiskussion

Aktuelle epidemiologische Studien belegen, dass klinisch relevante Verhaltensauffälligkeiten und psychische
Störungen in der frühen Kindheit mit einer Prävalenz von 14 bis 26% vergleichbar häufig wie im Kindesund Jugendalter auftreten. Dieser Befund unterstreicht die dringende Notwendigkeit, sich der Thematik in Wissenschaft und Praxis zuzuwenden und dazu beizutragen, die bestehenden Forschungsdesiderate und Versorgungslücken zu schließen. Hierfür ist eine frühzeitige Erkennung von Verhaltensauffälligkeiten bzw. psychischen Störungen bereits bei Säuglingen, Klein- und Vorschulkindern unabdingbar. Um dies zu ermöglichen, bedarf es einerseits eines grundlegenden Wissens über die kindliche Entwicklung in den einzelnen Entwicklungsbereichen. Andererseits braucht es ein dezidiertes Wissen über klinische Störungen der frühen Kindheit, was auch Wissen über Klinik und Therapiemöglichkeiten einschließt. Bisher fokussieren bekannte Klassifikationssysteme psychische Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Daran orientieren sich auch gängige Lehrbücher bei ihrer systematischen Zusammenschau von Störungsbildern und Therapiemöglichkeiten, so dass es bislang an der Ausarbeitung eines umfassenden Grundlagenwerks für psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten in den ersten Lebensjahren fehlte. Diesem Desiderat begegnet das neue klar und übersichtlich gestaltete Lehrbuch, das von Rüdiger Kißgen (Professur für Entwicklungswissenschaft und Förderpädagogik an der Universität Siegen) und Kathrin Sevecke (Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsklinikum Innsbruck) herausgegeben wurde, und eine ausführliche Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands in Anlehnung an das Klassifikationssystem DC:0-5 bietet. Die von der Herausgeberin und dem Herausgeber ausgewählten Ko-Autorinnen und -Autoren zeichnen sich durch ihre einschlägige Expertise aus und garantieren die interdisziplinär ausgerichtete Konzeption des Werks.

Aufbau und Struktur des Herausgeberbands

Die Qualität des neuen Lehrbuchs liegt darin, dass die 43 kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbilder der DC:0-5 (Diagnostische Klassifikation seelischer Gesundheit und Entwicklungsstörungen der frühen Kindheit) vorgestellt und systematisch aufbereitet präsentiert werden. Dabei hilft der gleiche systematische Aufbau der Beschreibung der einzelnen Störungsbilder der Leserin und dem Leser, sich die Informationen zuverlässig und mühelos zu erschließen. Zu jedem Störungsbild wurde von thematisch spezialisierten Arbeitsgruppen der aktuelle Wissensstand zu folgenden Punkten zusammengetragen: Definition und Klassifikation, Epidemiologie, Symptomentwicklung und Komorbidität, Ätiologie und Pathogenese, Diagnose und Differenzialdiagnostik, Behandlung und Prävention, Verlauf und Prognose, Forschungsdesiderate und Ausblick. Dabei besticht das vorliegende Werk bei der Darbietung der Störungsbilder durch Übersichtlichkeit, logische Gliederung, Nachvollziehbarkeit sowie stringente und für die Rezeption zweckdienliche Aufbereitung des Inhalts. Den Kapiteln über die Störungsbilder sind zwei Kapitel vorangestellt, in denen das erste einen breiten Überblick zur normalen kindlichen Entwicklung der ersten sechs Lebensjahre gibt. Das zweite dokumentiert psychische Störungen in den ersten Lebensjahren und deren Klassifikation. Hier wird unter anderem aufgezeigt, dass die klassischen kinder- und jugendpsychiatrischen Klassifikationsmanuale der Weltgesundheitsorganisation (ICD-10 bzw. -11) und der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (DSM-5) für die psychiatrische Klassifikation junger Kinder nicht ausreichend sensibel sind. Diese Lücke wird durch die DC:0-5 als derzeit genauestes Klassifikationssystem für die ersten sechs Lebensjahre geschlossen.

Zielgruppen

Das Lehrbuch, das zunächst vornehmlich medizinisch und psychologisch-therapeutisch ausgerichtet zu sein scheint, weist weit über diesen Bereich hinaus und tangiert sowohl Arbeits- als auch Forschungsfelder anderer Disziplinen und Professionen. Damit stellt es eine wichtige und fundierte Informationsquelle für verschiedene Berufsgruppen in Forschung, Lehre und Praxis dar. Hierzu zählen medizinische und psychologische Fachrichtungen sowie deren Studierende, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten, Fachleute der medizinischen Fachtherapien (z.B. Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie etc.) sowie Fachkräfte aus pädagogischen Fachrichtungen, die mit normaler und abweichender Entwicklung von Kindern im Alter zwischen 0–6 Jahren befasst sind. Hier sind besonders Pädagoginnen und Pädagogen im Kita-Bereich, in Grund- und Förderschulen sowie Heilpädagoginnen und Heilpädagogen in der freien Praxis angesprochen.

Würdigung

Insgesamt handelt es sich bei dem vorliegenden Lehrbuch um eine in der gegenwärtigen Situation bedeutende Publikation, die sowohl auf der Forschungs- als auch auf der Praxisebene den aktuellen Stand dokumentiert. Dabei bildet sie einerseits einen gesicherten Ausgangspunkt für die weitere Forschung, da Forschungsdesiderate offengelegt werden, die zum weiteren Handeln auffordern. Andererseits gibt die Publikation fundierte Information über den aktuellen Wissensstand zu den einzelnen Störungsbildern, die für die Gestaltung der Praxis leitend sein sollten. Diese Informationen ermöglichen den praktisch Tätigen die Einordnung und Reflexion sowie Erweiterung des eigenen praktischen Wissens. Ferner können Impulse für die eigene berufliche Fortbildung entnommen werden. Es ist ein besonderes Verdienst der Autorinnen und Autoren, den Fokus auf den Bereich der frühen Kindheit zu legen und damit eine bisher vernachlässigte Altersgruppe in den Blick zu nehmen. Dies ermöglicht ein frühzeitiges Erkennen psychischer Störungen und das Einleiten präventiver Maßnahmen. Schlussendlich kann damit ein Beitrag geleistet werden, Kindern ebenso wie ihren Familien und dem professionellen Umfeld frühzeitig substanzielle und gezielte Hilfen anzubieten. Dieses Lehrbuch kann allen in den genannten Forschungs- und Praxisfeldern Tätigen als ein Grundlagenwerk empfohlen werden.

Theresa Stommel & Norbert Heinen