Sozial-emotionaleEntwicklung mitLernleitern (SeELe):Ein Programm für dieSekundarstufe 1

Müller, T., Grieser, A., Roos, S. & Schmalenbach, C. (2022).

Die Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen ist im Schulgesetz als wesentlicher Erziehungsauftrag sowie in Bildungsplänen einzelner Unterrichtsfächer verankert. Diese Kompetenzen werden als Schlüsselqualifikation für den späteren Lebenserfolg der Kinder und Jugendlichen angesehen. Beeinträchtigungen in diesem Bereich können unter anderem zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Aktuelle Befunde zeigen, dass Lehrkräfte gegenüber der Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensauffälligkeiten negativer eingestellt sind als gegenüber anderen sonderpädagogischen Schwerpunkten (z.B.Ruberg & Porsch, 2017), möglicherweise aufgrund von Überforderung oder Unsicherheiten hinsichtlich der Förderung. Jedoch steigt der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit dem sonderpädagogischen Schwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung. Lehrkräfte werden daher häufiger mit Verhaltensproblemen konfrontiert und müssen sich mit Möglichkeiten der Prävention und Förderung auseinandersetzen.

Beim Trainingsprogramm Sozial-emotionale Entwicklung mit Lernleitern (SeELe) handelt es sich um ein Konzept zur Förderung sozialen und emotionalen Lernens. Die Zielgruppe umfasst nicht nur Schülerinnen und Schüler mit emotional-sozialem Unterstützungsbedarf, sondern alle Schülerinnen und Schüler ab der Sekundarstufe I (S.7). Auch der Einsatz in der Sekundarstufe II und in berufsvorbereitenden Maßnahmen ist denkbar (S.5). Es werden keine Lernvoraussetzungen genannt, welche die Schülerinnen und Schüler mitbringen sollten, um vom Trainingsprogramm zu profitieren. Im Handbuch werden zu Beginn wissenschaftliche Konzepte und Befunde dargestellt, auf denen das Programm basiert (Kapitel 2). Anschließend werden Schülerinnen und Schüler im sonderpädagogischen Schwerpunkt Emotionale und soziale Entwicklung charakterisiert und auf spezifische Unterstützungsbedarfe verwiesen (Kapitel 3).

Darauf aufbauend werden in Kapitel 4 und 5 die methodischen Arrangements und die Grundanlagen des Programms erläutert: SeELe integriert zwei methodische Ansätze, die Multi-Grade-Multi-Level-Methology (MGML) und das Kooperative Lernen. Somit wurden klare Schwerpunkte auf Eigenaktivität und Interaktion der Schülerinnen und Schüler gesetzt. Die aus der MGML stammende Lernleiter bildet das strukturierende Element des Programms und besitzt fünf Ebenen. Innerhalb dieser sind Aufgaben und Aktivitäten angelegt, deren Bearbeitung zur Erreichung von Meilensteinen (Milestones) und zum Voranschreiten auf der Lernleiter führen. Auf Ebene 1 werden mit den Meilensteinen Kooperation, Kommunikation und Biografie die Grundlagen für die Lernleiter und das Kooperative Lernen geschaffen. Ab Ebene 2 wird die Auseinandersetzung mit den Grundemotionen und erweiterten Emotionen angeregt. Die Meilensteine der einzelnen Ebenen sind im Handbuch explizit erläutert, unter anderem in Form von ausformulierten Lernzielen (Kapitel 6).

Eine klassische Leistungserhebung am Ende der Meilensteine sieht das Programm nicht vor, stattdessen existieren Reflexionsaufgaben sowie Aktivitäten zur Zusammenführung der Inhalte und die Schülerinnen und Schüler können ein Portfolio zur Dokumentation ihrer Lernprozesse anlegen (S.23). Das Handbuch
schließt mit Überblickstabellen der Inhalte des Programms, die der Orientierung dienen (Kapitel 8). Das Besondere an der SeELe-Lernleiter ist, dass sie individuelles und soziales Lernen auf unterschiedlichen Ebenen und Anforderungen verbindet und somit der Heterogenität einer inklusiven Schülerschaft
gerecht werden möchte. Außerdem kann die Lernleiter entweder von unten nach oben bearbeitet oder als Sammlung von Inhalten verstanden werden, eine Art „Vorratskammer“, aus der einzelne Aktivitäten herausgegriffen werden können. Mit Erwerb des Handbuchs erhält man Zugang zu den Online-Materialien.

Das Programm ist für den Einsatz an Schulen oder anderen pädagogischen Settings konzipiert. Die Zielgruppe des Handbuchs bilden primär Lehrkräfte an Sonder- oder Allgemeinen Schulen für den Einsatz ab Sekundarstufe I. Auch für Akteure der Aus- und Weiterbildung von (sonder-)pädagogischem Fachpersonal ist die Lektüre lohnenswert. Angehende Lehrkräfte können vom Handbuch profitieren, wenn sie z.B. im Rahmen eines Praktikums oder einer wissenschaftlichen Arbeit SeELe erproben möchten. Insgesamt ist SeELe gründlich durchdacht, theoretisch fundiert und mit viel Sorgfalt konzipiert. Das Programm basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Konzepten, die im Handbuch klar beschrieben werden. Zudem wird die Wahl der Methoden für die anvisierte Zielgruppe und den zu fördernden Bereich schlüssig begründet. Das Handbuch bietet verständlich formulierte Handlungsanleitungen für die Lehrkraft sowie Zugang zu einem großen Pool an Materialien. Diese sind altersunabhängig, grafisch ansprechend und im Sinne einer Reizreduktion schlicht gestaltet, was die breite Anwendbarkeit des Programms unterstützt. Eine Herausforderung bei der Förderung sozial-emotionaler Entwicklung ist die Sensibilität
des Lerngegenstands an sich. Im Handbuch wird an vielen Stellen deutlich, dass SeELe dies berücksichtigt, indem z.B. auf Formen der Differenzierung verwiesen wird, wenn die Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer individuellen psychosozialen Belastung entweder die Themen oder das kooperative Lernen nicht annehmen können. Jedoch sind im Handbuch keine Befunde für die empirische Wirksamkeit von SeELe aufgeführt. Auch Schmalenbach und Kollegen (2019) betonen selbst, dass die nächsten Schritte erste Erprobungen sein werden. Damit kann das Programm vorerst (noch) nicht als evidenzbasiert eingeschätzt werden. Hierzu benötigt es Belege für die Wirksamkeit des Programms im Sinne einer evidenzbasierten (sonder-)pädagogischen Praxis.


Lea Rüger